Diagonale
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Diagonale
Festival des österreichischen Films
27. März - 1. April 2025, Graz

 

Die Diagonale 2025 widmet der 1970 geborenen Filmemacherin Ivette Löcker eine Werkschau und freut sich auf die Premiere des neuen Filmes Unsere Zeit wird kommen im Rahmen des Festivals!

| Nachspann |
Unsere Zeit wird kommen
Sa 29. März, 14 Uhr
Schubertkino 2
Mehr Informationen → hier

 


Die Filme:

Wenn es blendet, öffne die Augen
AT 2014, 75 min

Nachtschichten
AT 2010, 35mm, 97 min

Was uns bindet
AT 2017, 102 min

Vom Über(Leben) der Sonja Wolf
Co-Regie: Christian Frosch
DE 2014, 19 min

Marina und Sascha, Kohleschiffer
DE/AT/RU 2008, 32 min,

Anja und Serjoscha
DE/AT 2018, 30 min

| Position | Ivette Löcker |

FILMEN ALS GEMEINSCHAFTLICHER RAUM
von Esther Buss 

Portrait Ivette Löcker

Ivette Löcker in Berlin im Oktober ’24 © Diagonale / Jürgen Keiper

Ein Paar ringt vor laufender Kamera um das Bild seiner Beziehung. Der Mann und die Frau sind uneins, welche ihrer Lebensrealitäten im Dokumentarfilm Unsere Zeit wird kommen (2025) abgebildet bzw. wie diese gewichtet werden sollen. Denn die verschiedenen Herkünfte – Gambia, Österreich – bringen zwangsläufig verschiedene Perspektiven auf das (filmische) Wir hervor: Siaka möchte aufgrund diskriminierender Erfahrungen dringend über seinen Schmerz und systemischen Rassismus sprechen. Seine Frau Victoria hingegen verbindet mit der gemeinsamen „Filmzeit“ stärker den Wunsch nach einem von den täglichen Belastungen unbeschadeten Bereich, in dem ihre Liebe und Verbundenheit Zeugnis findet. „What creates the film?“, fragt Siaka, nachdem die Filmemacherin Ivette Löcker aus dem Off versucht hat, die eng miteinander verwobenen Fäden im Debattenfeld ein wenig zu sortieren. Nachdrücklich unterstreicht er die Notwendigkeit, seine erlittenen Verletzungen in die filmische Öffentlichkeit zu tragen: „The film is about our story, our pain and our good times. We have to talk about it, how the people hurt us. We have to show that in the film. Because thousands of people also have this problem. It’s not only us.“

Was üblicherweise Gegenstand von Vorgesprächen oder „off the record“ ist, kann in diesem Moment nicht aus dem filmischen Rahmen herausgehalten werden. Die Wirklichkeit lässt es nicht zu. Dieser Augenblick legt als zentrale Szene auch Löckers Verständnis der dokumentarischen Arbeit offen: Filmen als gemeinschaftlicher Raum, der trotz Gestaltungsmacht der Regisseurin von den Protagonist:innen entscheidend mitbestimmt wird.

Das sich zum Beziehungsbild erweiternde Porträt ist im Werk von Ivette Löcker die herausragende Form. Im Mittelpunkt stehen meist Paare: befreundete, sich liebende oder entzweite, voneinander abhängige Paare, Gefährt:innen, Arbeitspartner:innen. Was Löckers Filme darüber hinaus verbindet, ist der so einfühlsame wie dezente Umgang mit marginalisierten Perspektiven: in Wien, an ihrem Wohnort Berlin, aber auch an entfernter gelegenen Orten, zu denen die studierte Slawistin durch wiederholte Reisen in besonderer Beziehung steht. Marina und Sascha, Kohleschiffer (2008) begleitet ein Paar, das in den eisfreien Monaten auf einem Lastkahn Kohle durch Sibirien transportiert, Anja und Serjoscha (2018) zwei Jugendliche, die in Mariupol, nahe der (damaligen) Kriegsfront, mit Performances gegen konservative Normen und Geschlechterstereotype aufbegehren. Ein ambivalenteres Bild von Beziehung zeichnet das zum Kammerspiel kondensierte Porträt Wenn es blendet, öffne die Augen (2014). In den räumlichen Begrenzungen einer engen Plattenbauwohnung in Sankt Petersburg überlässt Löcker einem seit den frühen Neunzigerjahren heroinabhängigen Paar das Wort und vermisst dabei den Übergangsbereich von (Ko-)Abhängigkeit, Fürsorge, Solidarität und Liebe.

Löckers Arbeiten folgen keinen starren (ästhetischen) Konzepten, sie sind stets Mischformen aus Alltagsbeobachtung und verdichtetem Kommunikationsraum – wobei sich Alltag weniger als das „normale Leben“ begreift denn vielmehr als ein zur Normalität verfestigter Ausnahmezustand. Im Verzicht auf allumfassende Übersicht und thesenhafte Ausholbewegungen konzentriert sich die Aufmerksamkeit ganz auf die Menschen vor der Kamera, die sich, losgelöst von einem größeren Beziehungsnetz, als Einzelwesen wie auch als Paar in klaren Linien konturieren. Im Sprechen wie durch die Sprache von Blicken, Gesten und Körpern werden Vertrautheit, Nähe, stille Vereinbarungen und Kommunikationsverfehlungen sichtbar, zeigen sich Übereinstimmung und Differenz, Geteiltes und Unteilbares. Auch wenn Löcker als Regisseurin meist unsichtbar bleibt und auf Voice-over verzichtet, nimmt sie sich die Freiheit, aus Situationen heraus Gespräche mit ihren Gegenübern zu entwickeln und sie aus dem Off direkt zu adressieren. 

Das Persönliche, das durch eine zugewandte, die eigene Position dennoch nie aus den Augen verlierende Haltung zum Ausdruck kommt, formuliert sich in einigen Arbeiten expliziter – bis hin zum Autobiografischen. Eine Kindheitserinnerung grundiert das Langfilmdebüt Nachtschichten (2010), das Menschen auf ihren nächtlichen Wegen durch Großstadt Berlin folgt. Im Spannungsfeld zwischen Freiraum und existenziellen Ängsten gilt Löckers Interesse auch hier Menschen an den Rändern der Gesellschaft: Graffiti-Sprayer, ein wohnungsloser Mann auf der Suche nach einem Schlafplatz, ein von Einsamkeit umhüllter Nachtwanderer. In Was uns bindet (2017), einer Rückkehr an ihren Herkunftsort, den Lungau, nähert sich Löcker in der Doppelrolle von Filmemacherin und Protagonistin/Tochter ihren Eltern, die getrennt unter einem Dach leben.  

Indem sie den Fokus auf individuelle Erfahrungen richten, öffnen sich Löckers Filme zugleich für gesellschaftliche und politische Perspektivierungen, machen akute Machtverhältnisse wie Zeitläufe und Generationenbilder sichtbar – seien es die Ausschlussmechanismen der weißen Mehrheitsgesellschaft in Unsere Zeit wird kommen oder das Porträt der „Generation Post-Perestroika“ in Wenn es blendet, öffne die Augen. Die Gegenwart zeigt sich dabei als ein fragiles Gebilde, in dem die Vergangenheit nachwirkt und die Zukunft auf unsicherem Grund gebaut wird. An der Seite ihrer Protagonist:innen, die ihren schwierigen Lebensverhältnissen mit Liebe, gemeinsamen Träumen, Weisheit und Humor trotzen, spricht sich Ivette Löcker entschieden dafür aus, die Sicht auf Möglichkeitsräume offen zu halten. 

 

Die Diagonale dankt dem Projektsponsor Gaulhofer – Fenster zum Wohnfühlen.

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